Die Harpyien
Wie Einhorn, Drache und Phönix, so zählen auch die Harpyien zu den Ältesten Wesen der Immerlande. Ihre Leiber erinnern an schlanke Frauenkörper, doch ihre Rücken, ihre Schultern und Arme sind mit dichtem, silberblauem Gefieder bedeckt und über ihren schmalen Gesichtern tragen sie riesige, gebogene Schnäbel gleich Masken, als wären Frau und Vogel zu einem einzigen Wesen verschmolzen. Harpyien besitzen kräftige Schwingen und Klauen anstelle von Händen und Füßen, nicht weniger furchteinflößend als die der Drachen. Einige alte Sagen erzählen gar davon, Harpyien wären bösartige Kreaturen, die mit der kalten Schönheit ihrer Gesichter die Männer verführten oder Kinder des Nachts aus ihren Betten stehlen würden, doch das sind nichts als Schauermärchen, um die Jüngsten damit zu schrecken und nichts davon entspricht der Wahrheit. Harpyien mögen andersartig und auch furchteinflößend wirken, doch sie sind sehr anmutig und besitzen eine ganz eigene Schönheit. So, wie die Drachen für die Kraft, das Einhorn für die Reinheit und der Phönix für die Lebendigkeit stehen, steht die Harpyie für die Weisheit, denn sie ist das klügste aller Wesen. Von ihren Augen jedoch heißt es: Nichts spiegelt sich in diesen hellen Silbertiefen, kein Funke, kein Leben, kein Licht, und viele Legenden berichten auch vom "bösen Blick" der Harpyie, dessen Bann sich niemand entziehen kann.
Harpyien haben nur ein Geschlecht, sie sind alle weiblich. Nachdem sie erschaffen worden waren, waren sie angewiesen auf ihre Unsterblichkeit, um nicht zu vergehen und ihre Art zu erhalten. Sie gelten als die Weisesten aller Wesen und es heißt von ihnen, sie verstünden alle Sprachen, die je gesprochen wurden, besäßen Kenntnis von den tief verborgenen Mysterien der Zeit und könnten in die Zukunft blicken. Und auch, dass allein sie die Antwort auf jedes Rätsel kennen, das je ersonnen wurde. Vor allem heißt es jedoch in den Sagen, dass es einst, vor langer Zeit, die Harpyie und der Phönix waren, die gemeinsam die Vögel erschaffen hätten. Da jedoch allein die Götter Roha mit lebendigen Wesen bevölkern durften, mussten die beiden ältesten Wesen dafür eine harte Strafe in Kauf nehmen: die Harpyie bezahlte mit dem Liebreiz ihrer Stimme, der Phönix mit seiner Unsterblichkeit für ihre Tat. Seither muss er in einem immerwährenden Kreislauf aus Werden und Vergehen sein Dasein fristen und verbrennt sich selbst zu Asche, aus der er wieder aufersteht. Am Anfang der Zeiten zogen die Harpyien noch zu vielen ihre Kreise an den Himmeln und warfen ihren Schatten auf die unendlichen Weiten Rohas. Meist zogen sie in kleinen Scharen umher und wachten über das Land. Von anderen Wesen haben sie sich jedoch von jeher schon ferngehalten, und als die Völker der Riesen, der Zentauren, der Zwerge und Jararankhaz, der Kobolde und Feen, und schließlich auch der Menschen zahlreicher wurden, zogen sie sich in die einsamen Höhen der Gebirge zurück. Doch irgendwann - und niemand, nicht einmal die Weisesten aller Weisen, könnten sagen, warum - verschwanden sie aus den Immerlanden. Wohin auf Rohas weitem Rund sie gezogen sind und ob sie je wiederkehren, ob sie überhaupt noch existieren, weiß niemand zu sagen. Nur eine einzige blieb auf das Geheiß der Götter hin, denn sie bewacht seit dem Großen Krieg am Ende des Vierten Zeitalters das Tor zur Unterwelt im Tal der Roten Nebel.