~ Der Zorn der Riesen ~

 

V

 

 

 

or langer Zeit, als die Welt noch jung war, verriet Ogh der Reimer, der Hüter der Wahren Namen, seinem auserwählten Volk den Thursen - oder Riesen, wie die Menschen sie nennen -, sein Wissen. Er brachte ihnen die Runen und die Gabe, mit ihnen umzugehen, denn er hatte wahrlich Großes mit ihnen vor. So wie die Söhne der Steine, das erwählte Volk Sils, die Ketten der Welt bewahren sollten, würde er die Thursen haben, die Namen der Dinge zu hüten. In jenen Tagen lag das mächtige Königreich der Riesen zu beiden Seiten des Wolkenthrongebirges und sein Herrscher war Ýmir Mar, der später auch Ýmir mit dem einen Auge genannt wurde. Auf den Klippen des Schicksals, im entlegensten Norden der Immerlande am Fuß des gewaltigen Zornstein, meißelten sie auf Oghs Geheiß hin das Weltenschicksal in flammenden Runenzeichen in den schweigenden Fels. Sie sangen dazu ein mächtiges Lied von der Schöpfung und Aufhebung, wie Ogh sie es gelehrt hatte, und die Worte ihrer Saga kündeten die Zukunft Rohas.


Die Thursen aber lasen die Saga, während sie meißelten und sangen, sie sahen, was war, was ist und was sein wird, und erkannten, dass ihre Macht als Herrscher Rohas von den Söhnen der Steine hinweggefegt und eines fernen Tages von Menschen, Ealaras liebsten Kindern, gebrochen werden würde. Darüber wandten die stolzen Thursen sich im Zorn gegen ihr Schicksal und rüsteten selbst zum Kampf gegen ihren eigenen Lehrmeister. Die Riesen stürzten sich mit bloßen Fäusten und Knochenhämmern auf Ogh den Reimer und brachten ihm ihren donnernden Groll entgegen. Doch Ogh, Hüter der Wahren Namen und Archon Lyrs, lachte nur, denn er erwies sich als stärker und bändigte seine rebellischen Kinder. Noch während die Erde bebte wussten die Thursen, dass sie geschlagen waren und richteten ihren Zorn nun gegen ihr eigenes Werk, die Weltenschickssalssaga, denn niemand sollte von ihrem kommenden Untergang erfahren. Sie zermalmten und zerschmetterten die Klippen des Schicksals in tausend Bruchstücke und schufen so in ihrer Wut den Ginnungagap, den tiefsten Abgrund und die lichtloseste Schlucht der Immerlande. Von allen wundersamen Runenzeichen, die sie so mühsam eingekerbt und geschnitten hatten, blieben ihnen nur Fragmente und sie wurden über das gesamte Antlitz des Nordens verstreut.


Und Ogh, der gerecht war, hatte Mitleid mit seinem erwählten Volk. Denn er blickte weiter als selbst die weisesten der Riesen und wusste, dass ihr Wissen unvollkommen war und sie mit ihrem Zorn ihr eigenes Verhängnis in Gang gesetzt hatten. Lange und sanft sprach er zu ihnen von der Macht des Schicksals und ihrer Bestimmung. Doch er hatte auch ihre gewaltige Wut nicht vergessen, die, einmal entfesselt, im Stande war selbst das Antlitz der Welt zu ändern, also sprach er zu ihnen. "Euer Zorn ist zu schrecklich, um Rohas Geheimnisse zu hüten, denn ihr zerstört, was euch heilig sein sollte. Ich bin Ogh der Reimer, Meister der Runen und Hüter der Wahren Namen, aber ich will mich nicht von euch wenden. Ihr habt das Geschenk, das ich euch gab vernichtet und nun ist euch nichts geblieben außer Splitter eurer einstigen Macht, verstreut in alle Winde. Sie wiederzuerlangen und sicher zu verwahren soll eure Buße sein. Die mächtigen Zeichen der Schöpfung und Aufhebung sollt ihr allein beherrschen. Ihr sollt wissen, wie sie zu ritzen und zu schneiden sind. Und eure Runenmeister sollen Macht und Ruhm erlangen, denn das Zeichen, das eingekerbt wird, ist niemals vergessen und der Name, gemeißelt in Stein, auf ewig unsterblich. Denn ein Wort ist, was es bezeichnet, das ist der Zauber, die großartigste Weisheit."


Und die Riesen taten, was Ogh ihnen befohlen hatte, erschüttert vom Wissen um ihr verlorenes Wissen, gefangen in ihrer Erinnerung an die gewaltige Weltenschickssalssage und gebrochen von ihrem eigenen Zorn. Sie zogen aus die verlorenen Runensteine zu finden, die Scherben ihres großen Werkes und trugen sie zusammen. Und Ýmir Einauge verdiente sich seinen Namen, weil er sein Auge gab im Kampf mit der Miðgarðsormr, der großen Schlange, um die letzte verlorene Rune heimzuholen. Doch dann krochen die Söhne der Steine aus dem Gebein der Erde und sie stahlen den Riesen acht der Runen, die sie zu bewahren geschworen hatten… doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

 

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