~ Amitaris Thron ~

 

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ls alle Kinder Ealaras noch als ungesungene Melodien träumend schlummerten, wandelten die Götter noch auf Roha und vollendeten ihr großes Schöpfungswerk. Mit ihren machtvollen Gesängen und der Kraft ihrer eigenen Hände, prägten sie die Lande und gaben ihnen Form und Farbe: die großen Berge hoben sich empor, die Meere brandeten an ihre Gestade, die Dschungel des Südens entfalteten ihre üppige Pracht, die Flüsse suchten sich ihre lebendigen Wege...  

So begab es sich eines Tages, dass Amitari und ihr Gemahl Sil, der Weltenschmied, auf Roha wandelten. Sie gingen über eine große Ebene aus kahlem Fels und dünnen Flechten, auf der noch nichts wuchs und alles grau war – nur im Norden donnerte das Meer. Sil zog es nach Osten und Westen, wo er hohe Gebirge aufgetürmt hatte, in denen er tief schürfen, sie mit edlem Gestein und glänzenden Erzen füllen wollte. Doch Amitari nahm seine Hand und sprach: "Warte. Alle Mächte haben sich Orte auf Roha geschaffen, die sie besonders lieben, nur ich noch nicht. Ich habe das Angesicht der Welt mit Fruchtbarkeit und Leben gefüllt, aber hier will ich mir meinen Thron errichten." Sil aber sah über die weite, trostlose Ebene hinweg und erwiderte. "Warum hier? Du hast wundervolle Wälder überall auf Roha erschaffen, doch hier singt nur Vendis' Atem über nackten Grund. Hier ist nichts."
Amitari aber lächelte nur. "Einst wird hier mein Thron stehen."


Sie ließ sich inmitten der grauen Einöde nieder und wachte eine lange Nacht hindurch unter den silbernen Sternen. Und als Faêyris Augen sich groß und rund über der sich wandelnden Welt erhoben, da erwuchs aus dem kahlen Boden ein Schössling empor. Er gedieh zu einem schlanken, jungen Baum und noch ehe die Sonne den Himmel im Osten berührte, da dehnte sich seine Krone schon über Amitaris Haupt und immer noch wuchs er. Amitari nährte ihn mit ihrer Liebe zu allem, was wächst und fruchtbar ist und tränkte den Boden mit ihren eigenen Tränen und so kam es, dass dem Baum selbst einen Teil ihrer Schöpferkraft innewohnte.


"Ich habe den Anfang getan", sprach da die Göttin. "Vollende du nun mein Werk." Und sie lächelte still, und auch voller Trauer, denn sie hatte Ahnung von dem, was kommen würde. Ihr Baum trug Früchte und aus seinen Samen keimten neue Schösslinge empor, wuchsen zu prächtigen Bäumen heran und trugen bald ihrerseits wieder Früchte. Aus einem kleinen Hain wurde ein Wald und Amitari verließ ihre Bäume seufzend, wohl wissend, dass ihr Werk sich selbst fortführen musste. Die Essenz göttlicher Schöpferkraft, die sie dem allerersten ihrer Bäume geschenkt hatte, erschöpfte sich mit jedem weiteren Baum, der nachfolgte, doch ihr wahres Geschenk war das Leben: im Schatten der Bäume gediehen fremde Samen, die der Wind herantrug, wuchsen Gras und Moos und Farne, keimten andere Bäume. Die kahle Ebene wandelte ihr Gesicht, und über die Zeitspanne zahlloser Jahre wuchs um den Hain der heiligen Bäume der Dunkelwald heran. Amitari selbst wandelte oft in irdischer Gestalt über seine verschlungenen Pfade und ihr Lachen wisperte stets durch die Schatten unter seinen Bäumen.


Als viele Tausend Jahre später die Wohnsitze der Götter auf den Himmelsinseln vernichtet wurden und sich die zwölf Mächte in die Gefilde der Sterne zurückzogen, um nie mehr auf Roha selbst zu leben, trauerten die heiligen Bäume so sehr um ihre geliebte Herrin, dass sie welkten und starben - zurück blieb eine baumlose Lichtung, ein nackter Fleck im südlichen Teil des riesigen, sonst so undurchdringlichen Waldes. Die Wurzel des allerersten Baumes jedoch verschwand nicht vollkommen. Als er starb, brach sein Stamm, der im Lauf der Zeit verrottete und wieder zu Erde wurde. Sein Wurzelstock und der Stumpf jedoch versteinerten und bei genauerem Betrachten, scheint es, als habe er die Form eines Sitzes, nein vielmehr eines Throns. 

 

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